„Wenn wir nicht wissen, wer wir sind, können wir niemandem offen begegnen.“ DIG diskutiert in Bremen über Wege zu einer vielfältigen und offenen Gesellschaft in Israel und Deutschland

Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe anlässlich des 75jährigen Jubiläums der Staatsgründung Israels hatte die Deutsch-Israelische Gesellschaft Bremen-Unterweser unter der Überschrift „Wie die Vielfalt achten, die Einheit wahren? Über den Umgang mit Diversität in Israel und Deutschland“ am gestrigen Sonntag zu einem Tagesseminar geladen. Dabei sollte die Frage im Vordergrund stehen, ob – und wenn ja, wie – Israel und Deutschland im Umgang mit und bei der Integration vielfältiger gesellschaftlicher Gruppen in die Gesellschaft voneinander lernen können.

Zur Einführung gab Johannes Becke, Professor für Israel- und Nahoststudien an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, einen Überblick über „Minderheiten in Israel – Zwischen Konflikt und Normalisierung“. Er führte aus, dass man in Israel nicht so sehr auf die Vielfalt gesellschaftlicher Gruppen fokussiert, sondern eher auf das Konzept „Mehrheit – Minderheit(en)“. Zur Verbesserung des jüdisch-arabischen Verhältnisses in Israel, auf das er sich konzentrierte, stellte er verschiedene bereits praktizierte Ansätze vor. Dazu gehören der Ausbau des Arabisch-Unterrichts an jüdisch-israelischen Schulen und des Hebräisch-Unterrichts an arabisch-israelischen Schulen, z. B. durch Lehrer-Austauschprogramme oder der weitere Ausbau zwischengesellschaftlicher Beziehungen in den Nahen Osten wie bereits im Rahmen der Abraham-Abkommen begonnen.
Kontrovers wurde im Anschluss vor allem bei der Frage des voneinander Lernens der „Schmelztiegel Armee“ diskutiert, der nach einhelliger Meinung nicht 1:1 auf Deutschland übersetzt werden kann. In diesem Kontext kam auch die Abschaffung der Wehrpflicht in Deutschland zur Sprache, die sich vermutlich im Zuge des aktuellen Weltgeschehens neu stellen wird.
Als Fazit des ersten Teils wurde festgehalten, dass die Verbesserung der jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel deutlich leichter zu realisieren ist als eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konfliktes, erstere aber kein Ersatz für eine dauerhafte politische Lösung sein kann.

Der zweite Teil befasste sich mit der Antidiskriminierungspolitik in Deutschland und Israel – oder, wie es die erste Referentin Miriam Awad Morad (Universität Haifa) ausdrückte, dem „Dilemma zwischen dem Empowerment des Einzelnen und dem einer oder mehrerer Gruppen“. Miriam Awad führte aus, dass die vier großen Gruppen im Staat, die Haredim (Ultra-Orthodoxe), die Nationalreligiösen, die Säkularen und die Araber jeweils ihr eigenes Bildungssystem haben, so dass die Begegnung mit Angehörigen anderer gesellschaftlicher Gruppen erst in der Universität (und nur selten vorher beim Wehrdienst) möglich ist.
Bisherige Bemühungen, Trennungen zu überwinden, seien nicht ausreichend, zumal bisherige Regierungen Vertreter:innen von Minderheiten nicht in Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse einbezogen hätten.

Die zweite Referentin Dr. Henrike Müller (Fraktionsvorsitzende BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in der Bremischen Bürgerschaft) stellte eingangs die Frage: Wie begreifen wir „Diversität“ in Deutschland? Setzt sie sich basierend auf dem Grundgesetz aus vielen Individuen zusammen oder aus anerkannten Minderheitengruppen? In Beantwortung ihrer eigenen Frage legte sie dar, dass in Deutschland eine zeitgemäße, die aktuellen gesellschaftlichen Realitäten reflektierende offizielle Anerkennung von Minderheitengruppen fehle und Deutschland überdies im europäischen Vergleich über einen verbesserungswürdigen Minderheitenschutz verfüge.

Einig waren sich beide Referentinnen beim Fazit, dass die Idee von Ben-Gurions „melting pot“ gescheitert sei und dies somit auch kein Konzept sein könne, das Deutschland übernehmen sollte. Analog zu Miriam Awads ironischem Zitat „Für jüdische Israelis ist Israel ein demokratischer Staat – für arabische Israelis ist es ein jüdischer Staat“ könnte vielmehr eine Lehre Israels für Deutschland sein, über eine stärkere Anerkennung von Minderheiten eine gesellschaftliche Offenheit dafür zu erreichen, was aus ihrer jeweiligen Identität heraus sinnstiftend für die gesamte Gesellschaft sein könnte.

Berlin, 11. September 2023

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(Foto: (c) DIG)